Achterbahnfahrt (von Sophia Najjar)
Die Tür des Busses öffnet sich, schleppend, so wie meine Schritte mich tragen. Das einzige, woran ich denken kann: Achterbahnen. Ab diesem Tag würde ich Freizeitparks hassen. Das ist sicher. Jetzt stehen wir bereits hier, an der Kasse und es gibt kein Zurück mehr, denn meine Mutter wollte nicht unterschreiben. Alle schwärmen, schon seit zwei Wochen. Außer ich. Zuerst bemerke ich den Jungen gar nicht, der auf mich zukommt. Lautstark fragt er: „Kommst du auch mit?“ Unsicher sage ich: „Ich weiß nicht…ja.“ „Okay“, höre ich ihn noch sagen, bevor er sich einer Gruppe anschließt. Er winkt mir zu. Obwohl ich gar nicht weiß, wem ich gerade was zugesagt habe, folge ich ihnen. Ich habe schon schlimmere Situationen hinter mir als jene. In solchen Momenten ist mir alles egal, egal was ich sage, egal wer mich anschreit. Hauptsache in meinem Kopf spielt sich das Richtige ab. Ich werde oft als in sich gekehrt und schüchtern beschrieben. Ich hätte keine Persönlichkeit. Selbstbewusster sollte ich werden. Das bin ich, angeblich. Ähnliches bekam ich immer zu hören, wenn ich mit meinem Vater auf der Autobahn fuhr. Er würde nie langsamer fahren. Selbst nicht, wenn er meine Gedanken dazu lesen könnte. Plötzlich fällt mir eine Haarsträhne ins Gesicht und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich frage mich, ob der Junge neben mir mich schon die ganze Zeit so anguckt. Wenn ja, würde ich nicht verstehen warum. Ein paar Kinder vor mir zeigen auf ein riesiges Gerüst, nicht weit entfernt von lautem Geschrei. Meine Gruppe bewegt sich einfach darauf zu. Ich mit allen anderen, ohne Worte. Um mich herum höre ich Gelächter und merke, wie wir uns in einer Reihe aufstellen. An eine andere, lange Schlange. Erst jetzt bemerke ich, wo wir anstehen. Ich muss hier weg. Doch ich bin wie festgewachsen. Festgewachsen am Boden. Die Schlange wird kürzer. Ich rücke immer weiter an meine Todesangst. An irgendeine Person muss ich mich doch wenden können. Wie oft habe ich mir das schon gedacht. Ich bin wie gelähmt. Niemand achtet auf mich. Ich weiß nicht, wie ich nach außen hin scheine. Innerlich zerfrisst mich die Angst und trotzdem laufe ich in der fließenden Schlange immer weiter mit. Vielleicht kann ich damit meine Angst für immer überwinden. Wenn ich mich nur darauf einlasse. Doch ich kann diesen Gedanken nicht länger als eine Sekunde festhalten. Das ist es nicht. Die Lösung für mein Problem, dafür wäre es viel zu einfach. Einfach machen, ist die Antwort auf jeden Zweifel. Nicht bei mir. Ich kann das nicht. Einfach drüber hinwegsehen. Mir wird übel. Zu viele Gedanken in meinem Kopf sammeln sich an, ich weiß nicht, ob ich das alles hier noch klar sehe. Wird mir schwarz vor Augen oder sind sie geschlossen? Ich spüre den kalten Schweiß auf meiner Stirn. Ich kann nicht einfach wegrennen, ich will die Aufmerksamkeit nicht auf mich ziehen. Dann nennen sie mich wieder ängstlich und schwach, nein nicht das Gleiche wie letzten Sommer. Ich ziehe das jetzt durch. Die Sonne blendet mich und bringt mich aus dem Konzept. Für kurze Zeit entspanne ich. Ein Schwall lauter Schreie schwingt von oben herab und wird von der Luft wieder verschluckt. Die Schnelligkeit ist fast schon hörbar. Plötzlich stehe ich ganz vorne. Das ging unerwartet schnell. Zu schnell. Vor mir der Wagen. Von hinten werde ich gedrängelt. Ich blicke nach hinten in die Menschenmasse und somit in viele leere Gesichter. Zurück in meinen Gedanken sehe ich nur noch Achterbahnen und zu viele Erinnerungen. Mein Herz schlägt mir fast bis zum Hals. Dort spüre ich einen Kloß, der durch das millionste Schlucken nicht weggeht. Mir bleibt die Spucke aus. Ich spüre ein Tippen auf meiner Schulter: „Eyy wenn du hier anstehst, musst du einsteigen!“ Höre ich verschwommen von hinten. „Haste mich gehört? Ey!“ Als ich versuche einen Fuß in den Wagen zu setzen, spüre ich keine Kraft mehr. Meine Sinne setzen aus. Ich blinzle auf. Die Sonne scheint kräftig, es ist warm. Doch ein Kopf beugt sich über mich und es ist dunkel.
Eine unerwartete Begegnung (von Julian Wortmann)
Er ging über die Straße, hinter ihm Menschenmassen, die durch die dunkle Nacht liefen. Die hohen Türme der Stadt ließen ihn wie einen Zwerg ausschauen, der sich verlaufen hatte. Er sah sich im Großstadtdschungel um. Als er in eine Seitenstraße einbog, merkte er, dass ihm jemand folgte. Als er stehen blieb, rempelte der Mann ihn an. „Was machen Sie hier, warum verfolgen Sie mich?“ ; „Oh, entschuldigen Sie bitte“. „ Wer sind Sie überhaupt?“, fragte er mit leichtem Unbehagen. „Oh“, sagte er mit leiser Stimme, „Mein Name ist Frank, Frank Heinsmann und ich verfolge Sie nicht!“. Heinsmann verließ die Straße und bog in eine Seitengasse ab. Wale dachte sich nichts und ging weiter, stets auf sein Ziel gerichtet, den Friedhof. Auf dem Weg dorthin herrschte Totenstille. Es war wie in einem Film, in dem alles leer ist und hinter jeder Ecke Gefahren lauern. Er zuckte zusammen, als eine Katze plötzlich aus der Hecke vor ihn sprang. Als er den Friedhof erreichte, konnte er im Mantel der Nacht nichts erkennen. Mit seinem Feuerzeug zündete er eine Kerze an, welche er auf einen Grabstein stellte. Er kniete sich vor das Grab und betete. Auf einmal sah er im Spiegel des Grabsteins Umrisse einer zweiten Person und drehte sich langsam um. Die Person trat hervor. „Sie schon wieder!“, sagte er erleichtert. „Was machen Sie denn hier?“; „ Haben Sie ihn gekannt?“; „Wen soll ich gekannt haben, diesen Mann hier?“ fragte Wale und zeigte auf den Grabstein. „Nein, ich meine, warum sind Sie überhaupt hier und beten zu einer Person, die sie offensichtlich nicht kennen? Wie heißen Sie überhaupt?“,antwortete Heinsmann, der sich inzwischen hingehockt hatte. „Achso, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, ich bin Thomas Wale. Und das hier ist das Grab meines Vaters, der vor 5 Jahren auf tragische Weise gestorben ist. „Ihr Vater, wirklich ihr Vater?“, fragte er. Sein Gesicht leuchtete im Dunkel der Nacht hell wie eine Glühlampe. „ Das ist auch mein Vater!“ Beide sahen sich mit verwunderten Augen an. Verwundert über diese Zufallsentdeckung schauten sich beide eine ganze Weile sprachlos an. „Ich fühlte mich immer so einsam, doch jetzt…“, „Sind wir Brüder“, antwortete Wale, der immer noch verwundert auf seinen Bruder starrte. Nach und nach stellten sie fest, dass ihr Vater zwei Ehen gehabt haben muss. Sie trafen sich immer öfter, verstanden sich gut. Eines Tages starb jedoch Wales Mutter. Er ging durch den Friedhofseingang, wo er seinen Bruder damals getroffen hatte. Während der Beerdigung sah er in der Ferne eine weitere Zeremonie und erkannte darin seinen Bruder. Er blickte ihn nur mit einem verweinten Gesicht an.
Fliegende Bäume (von Eva Köbbing)
Er lässt seinen Blick aus dem Fenster schweifen. Die Bäume fliegen an uns vorbei. ,,Sie vermisst dich sehr.", höre ich mich sagen. Er wendet sich mir zu. ,,Wer? Wer vermisst mich?". ,,Marie, unsere Tochter. Sie ist doch noch so jung und nie bist du zuhause. Ich kümmere mich allein um sie. Immer bist du unterwegs. Sie vermisst dich." Schweigen. Ich zähle die Sekunden. Irgendwann entgegnet er mir: ,,Aber...wir brauchen das Geld doch. Wir würden uns doch ohne gar nicht über Wasser halten können." Ich weiß, er hat Recht. Das hat er doch immer. Und vielleicht brauchen wir seinen Job ja wirklich mehr, als mir bewusst ist.
Die Bäume fliegen an uns vorbei. Ich bin still geworden. Tausende von Gedanken gehen mir durch den Kopf. Die Bäume ziehen langsamer an uns vorbei. Langsamer. Wir bleiben stehen. Das Getuschel der anderen Fahrgäste dringt an mein Ohr: ,,Wieso halten wir?", ,,Vielleicht ist ja ein Tier auf den Gleisen.", ,,Was ist passiert?". Die Lautsprecher knacken: ,,Verehrte Fahrgäste, wegen eines technischen Fehlers ist die Weiterreise momentan leider nicht möglich. Wir rechnen mit etwa einer Stunde Verspätung und bitten Sie um Ihr Verständnis." Ende. Ich merke, wie mein Mann anfängt, mit den Füßen zu zappeln. Das macht er immer, wenn er nervös ist. ,,Wir werden es sicher rechtzeitig zu deinem Meeting schaffen.", versuche ich ihn zu beruhigen. ,,Aber wieder ist Marie alleine.", denke ich mir hinzu. Da richtet er sich auf und entschuldigt sich kurz. Verwundert bleibe ich zurück. Ich kann seine dumpfen Schritte noch lange im Gang hören.
Minuten vergehen. Ich werde unruhig. Ein Kellner bringt mir einen Kaffee, dessen Geruch mich ruhiger werden lässt. Mein Blick schweift aus dem Fenster. Nichts passiert. Die Bäume bewegen sich nicht. Wieder höre ich seine Schritte im Gang. Sie kommen näher. Doch sie hören sich anders an. Nicht mehr so entschlossen, eher träge und energielos. In seinem Gesicht hat sich Blässe ausgebreitet. Die Polster geben nach, als er sich neben mich fallen lässt. ,,Was ist passiert?" Ich schaue ihn an. Keine Antwort. ,,Was ist los?", frage ich erneut. Wieder keine Antwort. In seiner Hand hält er sein Diensthandy. Es zittert, genauso wie seine Hand. Ich zähle die Sekunden. Nach 17 Sekunden höre ich seine Stimme, kraftlos und schwach: ,,Ich werde kein Geld mehr für uns verdienen. Ich wurde gefeuert." Entgeistert und sprachlos sitze ich da. Die Bäume fangen wieder an, langsam an uns vorbei zu fliegen.
Heimweg (von Ruth Nießing)
20 Uhr, es ist dunkel. Warum kommt er nicht? Er kommt doch sonst immer? 10 Minuten sind vergangen, doch er kommt nicht. Der Mond scheint und durchleuchtet die Straßen. Straßenlaternen flackern. Kein Auto weit und breit. Ich muss nach Hause gehen, allein. Was war das? Eine Katze kreuzt mir den Weg. Mit ihren funkelnden grünen Augen guckt sie mich an. Ich lauf schneller. Wo soll ich lang? Ein Zug. Vor mir liegt der Bahnhof. Natürlich verwerfe ich diesen Gedanken direkt. Die Straßen werden enger. Fühle mich von jedem Menschen verfolgt. Der Wind pfeift. Immer noch habe ich einen weiten Weg vor mir. Immer wieder frage ich mich, wo er bloß war. Auch das noch: ein Friedhof. Die Laternen gehen aus. Wie lange bin ich schon unterwegs? Nun laufe ich am Park vorbei. Ich habe schon viel über die Gegend hier gehört. Doch leider nichts Gutes. Meine Schritte werden schneller. Die Kirchturmuhr schlägt 21 Uhr. Bin schon so lange unterwegs. Drogendealer stehen an jeder Ecke. Ich versuche sie zu meiden. Immer wieder rufen sie mir hinterher: „ Bock auf ne kleine Dröhnung!“, „ Hey bleib doch mal stehen!“. Fühle mich so hilflos. Kein Handy, kein Pfefferspray. Wo war er nur? Er kam doch immer um 20 Uhr. Meine Füße schleppen mich nur noch langsam voran. Er weiß doch, was damals passiert ist. Ich bin verzweifelt, den Tränen nahe. Ich vermeide jeglichen Blickkontakt mit Jugendlichen, die mir entgegen kommen. Einer rempelt mich an. Als er sich entschuldigt, rieche ich seinen Bieratem. Noch geschätzte 10 Minuten dann bin ich Zuhause. Plötzlich, Schritte hinter mir. Immer schneller werdende Schritte. Traue mich nicht, mich umzudrehen. Ich gehe schneller, doch die Schritte kommen immer näher. Ich fühle mich so hilflos. Soll ich mich umdrehen? Nein, ich renne lieber. Keine Zeit. Auf einmal eine Hand, eine vertraute Stimme.