SENDEN. Live-Show mit Überlänge statt virtueller Häppchen à la Tiktok, Insta und Co.: „Ich find's cool, wenn's so organisiert ist.“ Das sagt Tina Liefländer, als die Wahlarena in der Steverhalle beginnt. Diese Talkrunde überzieht deutlich ihre Sendezeit, endet erst nach rund drei Stunden, doch die Schülerschaft harrt nicht nur aus, sondern hakt immer weiter nach. Von verkürzter Konzentrationsspanne oder Politiküberdruss war praktisch nichts zu spüren. Den Grund nennt dieselbe Schülerin: „Weil es interessant war“, fasst die Zehntklässlerin des Joseph-Haydn-Gymnasiums zusammen.
Alle drei weiterführenden Schulen waren mit 9. und 10. Klassen und Teilen der Oberstufe am Freitag in der Steverhalle vertreten, wo bei der Sendener Wahlarena zur Europawahl 2024 rund 450 Schülerinnen und Schülern Helmut Birke (AfD), Hannes Dräger (Die Linke), Johanna Holtrup (SPD), Sabrina Salomon (CDU), Gregor Schäfer (FDP) und Janina Singh (Grüne) auf den Zahn fühlten. Sie einte, dass sie als Kandidaten zur Europawahl antreten, außer Hannes Dräger, der Özlem Demirel vertrat.
Gleich bei der ersten Frage, die sich auf den Klimawandel richtete, wurde aber deutlich, dass die Einschätzungen auf dem Podium nicht unterschiedlicher hätten sein können. Denn Helmut Birke (AfD) sprach von einer „falschen Annahme“, dass der Klimawandel von Menschen verursacht sei. Diesen habe es schon immer gegeben, „auch ohne menschliches Zutun“. Eine kühne Einlassung, die einige Schülerinnen und Schüler mit Lachen und spitzen Nachfragen quittierten. Auch Prof. Dr. Klaus Schubert, der als Politikwissenschaftler an der Uni Münster die Wahlarena begleitete, mischte sich zum klärenden Faktencheck ein.
Die Vertreterinnen und Vertreter der anderen Parteien verband, dass sie die Notwendigkeit betonten, die Transformation der Wirtschaft voranzutreiben. Dass darin gerade eine Chance besteht, hob Singh hervor. Salomon pochte darauf, bei ökologischen Vorgaben die Wirtschafts- und Sozialverträglichkeit im Blick zu behalten. Holtrup warnte, dass die Ziele des Green Deal der EU, die bis 2050 klimaneutral sein will, bröckeln könnten. Schäfer plädierte für „Technologieoffenheit“ und gegen Einschnitte in die Wahlmöglichkeiten der Menschen, während Dräger hervorhob, dass Klimaschutz bedeutet, „sich auch mit mächtigen Konzernen anzulegen“.
Dass sich die Schülerinnen und Schüler im Unterricht gut vorbereitet hatten, offenbarte der Fragenkomplex zur weiteren Entwicklung der EU – nämlich als „Vereinigte Staaten von Europa“ oder als Staatenbund. Wieder schwenkte der AfD-Vertreter aus dem Konsens aus. Er lehnt die EU als „Superstaat“ ab, weshalb sie rückabgewickelt und statt dessen Souveränität an die Nationalstaaten zurückgegeben werden soll. Die Vertreter der anderen Parteien sahen hingegen in allen Politikfeldern, die die einzelnen Mitgliedsstaaten nicht ausreichend beackern können, die Notwendigkeit, die Zusammenarbeit noch zu vertiefen: von der Außen- und Umwelt- bis zur Migrationspolitik. Allerdings gelte es, die Entscheidungsfindung so zu verändern, dass nicht einzelne Länder wie beispielsweise Ungarn das ganze System lahmlegen können. Weniger Bürokratie und Regeldichte auch in Detailfragen mahnten die Kandidaten überdies an.
Mit Blick auf die Flüchtlingspolitik herrschte Einhelligkeit, dass Fluchtursachen bekämpft werden müssen. Salomon bezeichnete es als „absolut richtig“, Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb der EU durchführen zu lassen. Was auch Schäfer befürwortete. Mehr Solidarität zwischen den EU-Staaten mahnten Holtrup und Singh an. Birke forderte Abschreckung: „Eine klare Ansage zu machen, dass es keine Chance mehr gibt, nach Europa zu kommen.“
Was es bedeutet, seine Heimat aufzugeben, wie verzweifelt man dafür sein muss, das schilderten daraufhin Schüler, die erst vor wenigen Jahren in Senden eine neue Heimat gefunden hatten – das waren Statements, wofür sie viel Applaus erhielten. Dass „die Integration in Deutschland gescheitert ist“, wie der AfD-Mann behauptete, ließ sich mit einem Blick ins Publikum in der Halle widerlegen.
Ganz klar als Fake-News entpuppte sich an diesem Tag auch, dass die junge Generation sich nicht für politische Inhalte und Akteure interessiert. Im Gegenteil, die Kandidatinnen und Kandidaten wurden teils sogar noch umlagert, als der offizielle Teil beendet war.
„Sehr cool“ fand Ahmed aus der Edith-Stein-Schule die Diskussion. „Positiv überrascht“ war Sofia aus der Geschwister-Scholl-Schule.
Das galt auch für den Politikwissenschaftler Schubert: Die vielen Fragen und das Am-Ball-Bleiben der Schülerinnen und Schüler aus Senden bezeichnete er als „traumhaft“. Und wörtlich: „Ich bin baff.“ Der Professor appellierte: „Bringt euch selbst in die Politik ein. Die hat den Schub nötig.“
von Dietrich Harhues